Windeln wechseln in der Schule: Wie unsere Kinder in einer Falle landen

Kinder, die Schwierigkeiten beim Sprechen haben. Kinder, die extrem schüchtern sind. Kinder, die sich nicht allein anziehen können oder sogar von Lehrkräften gewickelt werden müssen. Was klingt, wie der Ausnahmezustand, ist Alltag an manchen deutschen Grundschulen.

Sabine Peter, die die Grundschule Nordholz im Landkreis Cuxhaven leitet, sagte der "Nordsee-Zeitung" Ende Januar, dass 20 bis 25 Prozent der dortigen Schulanfänger bei Eingangsgesprächen Sprachdefizite hätten, etwa bei der Lautbildung.

„Das betrifft nicht nur Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder Kinder mit Migrationshintergrund, sondern insgesamt Kinder, die aus der Corona-Pandemie heraus verschiedenste Bedarfe mitgebracht haben“, so die Pädagogin. Bei Einschulungsuntersuchungen seien bei jedem vierten Kind, dessen Muttersprache Deutsch ist, Sprachdefizite oder Sprachentwicklungsstörungen festgestellt worden.

"Haben damit zu kämpfen, dass wir Kinder wickeln müssen"

Ein anderes Problem, das Peter an ihrer Schule erkennt, ist die Unselbstständigkeit einiger Kinder. Manche von ihnen können laut der Rektorin nicht eigenständig auf die Toilette gehen oder sich anziehen. Und: „Wir haben auch damit zu kämpfen, dass wir Kinder wickeln müssen“, so Peter. Sie meint damit nicht die Schüler mit besonderem Förderbedarf.

Es sind Herausforderungen, mit denen nicht nur die Lehrkräfte an der Nordholzer Grundschule zu kämpfen haben. Mitten in Berlin gibt es ganz ähnliche Schwierigkeiten. Das zeigt ein Gespräch mit Karina Jehniche, die die Christian-Morgenstern-Grundschule im Bezirk Spandau leitet.

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Sie sagt zu FOCUS online, dass auch in ihrer Einrichtung viele Kinder Sprachschwierigkeiten haben, entweder gar kein Deutsch sprechen oder sich nicht gut artikulieren können. "Manchmal kommen Kinder auch in Windeln zur Schule. Das sind zwar Einzelfälle, aber die Situation gibt es", so Jehniche. 

Seit Jahren steht außerdem in der Kritik, dass Eltern - unabhängig von der sozialen Schicht - ihre Kinder bis zur Schuleingangstür fahren, ihnen der Ranzen auf den Rücken setzen und sie dann nach drinnen schicken - und damit die Unselbstständigkeit der Kleinen fördern, weil sie zum Beispiel den Schulweg nicht lernen.

Unterstützungsbedarf in Familien wächst 

Der Psychologe Rüdiger Maas, der mit seinem Bruder das Institut für Generationenforschung gegründet hat, ist ernüchtert von den Berichten. "Das wirkt absurd. Früher durfte man erst in den Kindergarten, wenn man "trocken" war. Heute zählt das längst nicht mehr, weil es vielerorts Krippenkonzepte gibt", sagt er im Gespräch mit FOCUS online.

Wenn Kinder in der Schule noch Windeln tragen, sieht er die Schuld unter anderem bei den Eltern. "Sie sollten sich die nötige Zeit und Geduld nehmen, das aufzuholen und diese Verantwortung nicht an die Lehrpersonen übertragen, da diese ja tendenziell für viele Schüler da sein sollten." 

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass sich das Trockenwerden nicht erzwingen lässt - es ist ein individueller Prozess. Die meisten Kinder werden laut AOK zwischen dem dritten und vierten Geburtstag tagsüber verlässlich trocken. 

Grundsätzlich, so erklärt es Maas, sagen einige Pädagogen, dass der Nachwuchs heute unselbstständiger ist als früher. "In der Erziehung liegt der Fokus oft auf anderen Aspekten, nicht auf dem Training von Selbstständigkeit. Es gibt sogar Eltern, die die Abhängigkeit ihres Kindes genießen", so der Generationenforscher. Er beobachtet einen besorgniserregenden Trend.

"Zunahme an Überbehütung mit vielen Facetten der Vernachlässigung"

"Eltern nehmen ihren Kindern oft in der analogen Welt Dinge ab, die sie selbst erledigen könnten. Die digitale Bespielung findet viel zu früh statt", sagt Maas. Was er sieht, beschreibt er als "starke Zunahme an Überbehütung mit unglaublich vielen Facetten der Vernachlässigung". 

Das kann man sich so vorstellen: Eltern begleiten ihre Kinder noch im Grundschulalter auf Toilette, binden ihnen die Schuhe, ziehen ihnen die Jacke an. Sie spielen den Entertainer, um ihren Nachwuchs zu bespaßen, und wenn sie erschöpft sind, drücken sie schon den Kleinsten das Tablet oder das Handy in die Hand. Dann übernimmt der digitale Assistent.

Maas weiß, wovon er spricht: Mit einem Forscherteam hat er mehrere Jahre Daten zur Kindesentwicklung erhoben, Studien verglichen und mehr als 1000 Erzieher, Lehrer und Eltern befragt. Seine Erkenntnisse hat er in zwei Büchern zusammengefasst: "Generation lebensunfähig" und "Konflikt der Generationen". 

Der Psychologe findet auch, dass viele Eltern "den Alltag ihrer Kinder wie eine Art Checkliste rocken". Oft gehe es vor allem darum, in den Augen der Gesellschaft als "gute Eltern" wahrgenommen zu werden. Und weniger um die eigentlichen Bedürfnisse des Kindes. 

Schulleiterin Jehniche stimmt ihm in einigen Punkten zu. "Das ist der Klassiker: Auf der einen Seite können Kinder mit dem Handy umgehen, aber so einfache Sachen wie sich an- und ausziehen oder Türen öffnen nicht", sagt sie. Und fügt hinzu: "Mit Kindern braucht man einfach Geduld. Und die fehlt mir bei vielen Eltern heutzutage."

Ärmere Familien: "Eltern, die bei der Erziehung überfordert sind"

Wenn es darum geht, wie selbstständig ein Grundschulkind ist, können auch sozioökonomische Umstände eine Rolle spielen. Der Sozialwissenschaftler Marcel Helbig, der sich mit Fragen der sozialen Ungleichheit im Bildungssystem beschäftigt, beschreibt eine Art "Auseinanderdriften".

Auf der einen Seite sieht er Kinder, die mit viel Unterstützung aufwachsen und zur Selbstständigkeit erzogen werden - oft aus akademischen Familien, aber auch der Mittelschicht, sagt Helbig zu FOCUS online.

"Auf der anderen Seite haben wir es vor allem in ärmeren Familien und gerade in ärmeren Stadtvierteln mit Kindern zu tun, die enorme Probleme haben und bei denen Eltern mit der Erziehung überfordert sind", so der Bildungsforscher. "Auch, wenn man sich mit Schulsozialarbeitern in Brennpunktschulen unterhält, hört man immer mal wieder von Kindern, die schwere Ausgangsbedingungen haben."

Jehniche arbeitet an so einer Brennpunktschule. Auch sie beschreibt die "schweren Ausgangsbedingungen" einiger Kinder. Zum Beispiel, weil ihre Eltern gerade erst mit ihnen nach Deutschland gekommen sind und sie keinen Kita-Platz bekommen haben. Die sind ohnehin rar - eine Studie der Bertelsmann Stiftung, die Ende 2023 veröffentlicht wurde, kam zu dem Ergebnis, dass in Deutschland mehr als 400.000 Kita-Plätze fehlen. Oder, weil den Familien die Tagesstruktur fehlt, sie überfordert sind und der Nachwuchs deshalb nicht in die Kita geht.

"Einfach mal das Smartphone weglegen"

Genau das findet Jehniche aber essentiell. Frühkindliche Bildung in der Kita. Ihr ist wichtig, dass die Kleinen die Fröhlichkeit, mit der sie meist zum ersten Mal zur Schule kommen, nicht verlieren, nur weil sie zu unselbstständig sind, um mit ihren Klassenkameraden mitzuhalten.

"Kinder müssen an bestimmten Kompetenzen üben. Der Staat sollte genügend Kita-Plätze zur Verfügung stellen, wo der Nachwuchs auf die Schule vorbereitet wird. Wir reden immer vom Fachkräftemangel - um Fachkräfte zu bekommen, muss man eben schon früh anfangen und Familien unterstützen", findet Jehniche. "Und wenn Eltern schon keinen Kita-Platz bekommen, dann sollte es zumindest eine Art Vorschule geben, um sie zu unterstützen."

Die Artikulationsprobleme, die sie und die Nordholzer Schulleiterin Peter erwähnt haben, lassen sich laut Generationenforscher Maas vor allem auf eine Art lösen: mit Geduld. "Einfach mal das Smartphone weglegen oder sich bei Ausflügen direkt mit dem Kind beschäftigen. Bei Halbsätzen nicht sofort reagieren, sondern vom eigenen Kind einfordern, seine Bedürfnisse in ganzen Sätzen auszudrücken", rät er.

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