„Mit Merkel wurde alles schlimmer“, findet Rafael (25) und legt große Hoffnung in die AfD
Früher haben Sergej (25) und Rafael (27), die ihren Nachnamen nicht öffentlich lesen wollen, die SPD oder die Linke gewählt – Parteien, die traditionell für soziale Gerechtigkeit stehen. Heute fühlen sie sich dort nicht mehr aufgehoben.#
Am Sonntag haben die beiden Auszubildenden aus Böblingen wie andere junge Menschen nun die AfD gewählt. Es habe sich in den letzten Jahren viel zum Negativen hin verändert im Land. Vor allem bei den Themen Wirtschaft und Migration fühlen sie sich von linken Parteien nicht mehr verstanden.
Sergej (25) und Rafael (27) erzählen, warum sie AfD wählen
Was genau sie kritisieren, dazu hat sich Rafael vor dem Gespräch umfangreiche Notizen gemacht: Terroranschläge, ständig steigende Preise für Strom, Krankenversicherung, Benzin und Lebensmittel. Das sind die Themen, die ihn besorgen.
„Wie soll sich ein normal arbeitender Bürger ein Brot für vier Euro leisten können?“, sagt Rafael. Das kritisiert auch Sergej: „Die Kosten steigen dauernd, aber die Löhne wachsen nicht mit.“
„Seit Merkel da war, ist alles schlimmer geworden hier“
Die Schuld für all das sehen die beiden fast ausschließlich bei der deutschen Bundesregierung. „Wir finanzieren Fahrradwege in Peru und Genderwahnsinn“, sagen sie. Viele dieser Informationen haben sie aus dem Internet, häufig von Youtube. Hinterfragt haben sie ihre Quellen kaum.
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„Seit Merkel da war, ist alles schlimmer geworden hier“, findet Rafael. Er wohnt noch zu Hause, weil er derzeit eine Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik absolviert. Davor war er an der Universität, das Studium hat er aber abgebrochen. Er hat darin keine Perspektive gesehen. Seine Eltern stammen aus Polen, sei seien vor dem Kommunismus geflüchtet. „Am Anfang ist es uns hier gut gegangen“, erinnert sich Rafael – und räumt ein: „Es geht uns immer noch gut.“
Trotzdem ist er heute nicht mehr links, ergänzt er. Er sei in Deutschland in den Kindergarten und zur Schule gegangen, er sei hier verwurzelt. „Ich liebe dieses Land.“
Er fühle sich deutsch und polnisch zugleich. „Aber wenn es schlimmer wird in Deutschland, kann ich mir auch vorstellen, nach Polen zu gehen.“
Für Spanien-Urlaub „müsste ich zwei Jahre sparen“
Dort sei vieles besser, glaubt er. Man habe lange eine rechte Regierung gehabt, aber niemand sei dort „gleich als Nazi“ beschimpft worden. Polen kennt er von Urlauben und Besuchen bei der Verwandtschaft. „Wir haben dort ein Haus“, sagt Rafael. Und die Lebenshaltungskosten seien niedriger. Laut einer Auswertung der Online-Jobbörse Indeed.de verdienen die Menschen dort aber auch weniger. Das Durchschnittsgehalt in Polen liegt bei 28 000 Euro pro Jahr, in Deutschland bei 47 000 Euro.
Ein Haus – davon träumt auch Sergej. „In Sindelfingen kostet ein Haus um die 750.000 Euro. Das ist unmöglich zu bezahlen“, sagt er. Derzeit lebt er mit seiner Frau in einer Mini-Wohnung bei Sindelfingen. Neben seiner Ausbildung hat er einen zweiten Job, seine Frau arbeitet Vollzeit. Sie würden gerne mal Urlaub in Spanien machen. „Dafür müsste ich zwei Jahre sparen“, sagt Sergej.
Von den Russland-Sanktionen hält Sergej nichts
Seine Eltern stammen aus Russland. Dort ist er auch geboren. Als er drei Jahre alt war, sind sie mit ihm nach Deutschland gezogen. Wie Rafael ist er ausschließlich hier aufgewachsen. Deutschland sei heute wirtschaftlich das, was Russland zu der Zeit war, als seine Eltern ausgewandert sind, findet er. Die Zeichen stehen auf Schrumpfen. Die Wirtschaft in Russland dagegen wachse heute ständig – trotz des Krieges, behauptet er.
Dabei zeigen unabhängige Analysen ein anderes Bild: Der Krieg gegen die Ukraine hat die russische Wirtschaft zwar kurzfristig durch Rüstungsaufträge angekurbelt, langfristig warnen Wirtschaftsexperten vor massiven Schäden – unter anderem durch Fachkräftemangel und Sanktionen.
Von diesen Sanktionen wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hält Sergej nichts, denn sie würden nur Deutschland schaden. Die deutschen Medien würden vieles über den Krieg falsch darstellen – in die russischen habe er insgesamt mehr Vertrauen.
In der Rangliste der Pressefreiheit rangiert Deutschland laut „Reporter ohne Grenzen“ auf Platz zehn. Für Russland muss man in der Liste, die 180 Länder umfasst, sehr weit nach unten schauen. Man findet es auf Platz 162. Medien sind in Russland oft staatlich kontrolliert.
Ihre größte Sorge ist die wirtschaftliche Zukunft des Landes
Wie viele junge Menschen träumen Sergej und Rafael von einem besseren Leben. Die Erwartungen an die Regierung sind in demokratischen Ländern oft höher als in diktatorisch oder autoritär regierten, wo Menschen sich oft erst gar nicht trauen, Dinge infrage zu stellen oder überhaupt Erwartungen an die Regierung öffentlich zu äußern.
Sergej und Rafael haben sogar eine lange Liste mit Erwartungen an die Politik. Ihre größte Sorge ist die wirtschaftliche Zukunft des Landes. Auch kritisieren sie, dass „Deutschland zu viel Geld an andere Länder gibt“. Deshalb solle sich die Regierung wieder mehr auf das eigene Land konzentrieren – nicht nur auf Europa, sagt Sergej.
Deutschland ist inzwischen ein „einziger Sozialstaat“
Rafael findet, man müsse zurück zu einer freieren Marktwirtschaft. Der Staat solle sich nicht in die Wirtschaft einmischen – das tue er vor allem bei der Klimaneutralität zu viel. Auch kritisiert er, dass sich eine Ausbildung finanziell kaum noch lohne.
Ein Mädchen in seinem Betrieb sei ausgelernt und verdiene 2300 Euro brutto. „Ah ja, ciao“, sagt er nur dazu. Deutschland sei inzwischen ein „einziger Sozialstaat, viele sind zwei Wochen hier und bekommen Bürgergeld.“
Beim Thema Finanzen zeigt sich bekannter Widerspruch
Dabei profitieren sie beide ebenfalls von diesem Sozialstaat – etwa durch eine geförderte Ausbildung. Dieser Widerspruch zwischen persönlichem Nutzen und allgemeiner Kritik am Sozialstaat zeigt sich bei vielen AfD-Wählern.
Auch zeigen verschiedene Studien, dass die in Teilen rechtsextreme Partei Menschen wie Sergej und Rafael kaum helfen würde. Im Jahr 2023 brachte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung eine Studie zu den Zielen der Partei heraus.
„Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler“, lautete der Titel. Die AfD verfolge eine neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik, wolle Sozialleistungen abbauen – was vor allem Haushalte mit mittlerem und niedrigem Einkommen treffen würde, heißt es in dem Papier.
Die wirtschaftspolitischen Ideen der AfD seien für die Wirtschaft schädlich und würden in der Umsetzung einen massiven Wohlstandsverlust bedeuten, warnte jüngst auch Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie.
SPD und die Grünen haben gezeigt, dass sie „es nicht schaffen“
Sergej und Rafael finden trotzdem, die AfD solle mal zeigen, dass sie es besser macht als die anderen Parteien.
Vielleicht ja schon bei der nächsten Wahl. Und wenn nicht? „Dann wähle ich wieder anders“, sagt Rafael. Sergej meint, die SPD und die Grünen hätten ja gezeigt, dass sie „es nicht schaffen“.
„Die schieben ja keine Italiener ab, die hier seit 20 Jahren Steuern zahlen“
Ob sie keine Angst haben, abgeschoben zu werden? „Ich habe eine deutsche Staatsangehörigkeit und zahle hier seit neun Jahren Steuern“, sagt Sergej. Die AfD würde nur Migranten abschieben, die kriminell seien – so glaubt er. „Die schieben ja keine Italiener ab, die hier seit 20 Jahren arbeiten und Steuern zahlen.“
Ihr Vertrauen darauf, dass die AfD nur „kriminelle Migranten“ abschieben will, basiert auf der Rhetorik von AfD-Politikern. Im Wahlprogramm steht nur der vage Begriff „Remigration“ – das könnte unter Umständen auch Menschen mit deutschem Pass treffen. Sergej und Rafael halten dies aber für „Propaganda“.
„Leute, die arbeiten, sollen bleiben“
Die beiden jungen Männer wollen nur eine restriktivere und leistungsorientierte Einwanderungspolitik. „Leute, die arbeiten, sollen bleiben“, sagt Sergej. „So wie unsere Eltern damals, die haben das doch auch geschafft.“
Ein eigenes Haus, finanzielle Sicherheit und auch ein Leben neben der Arbeit mit Freunden und der Familie – mehr würden sie ja gar nicht wollen. „Den Traum hat doch jeder“, sagt Sergej. Aber auf „illegale Migranten und Genderwahnsinn“ könnten sie verzichten.
AfD-Wahl als Protestwahl gegen ein „weiter so“
Wie Sergej und Rafael geht es vielen jungen Menschen in Deutschland. Sie fühlen sich trotz Vollzeitjobs abgehängt – was bei vielen für Frust, Wut und Neid sorgt. Die AfD bietet vor allem jungen Männern eine politische Heimat für diese Gefühle. Laut Wahlanalysen machen sich auch junge Frauen Sorgen um soziale Gerechtigkeit, wählen aber mehrheitlich links.
„Extrem“ finden die beiden die AfD nicht. Sie sehen die Partei eher als eine Art Korrektiv – eine Protestwahl gegen ein „weiter so“. Schlimmer könne es nicht werden, finden sie.
Wissenschaftliche Studien zu jungen Wählern
Studie I
Die repräsentative Jugendwahlstudie 2024 des Instituts für Generationenforschung des Augsburger Psychologen Rüdiger Maas hat Erstwähler zu ihren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten befragt. Insgesamt hat er 132 Interviews geführt und 870 Personen befragt. Rund 26 Prozent davon lehnen das klassische Links-Rechts-Schema an sich schon ab. Rund 33 Prozent sehen sich eigentlich als politische Mitte, rund 17 Prozent davon gaben aber auch an, die AfD oder BSW in Betracht zu ziehen. Dennoch gaben 65 Prozent der befragten ostdeutschen Erstwähler und 74 Prozent der westdeutschen an, Angst vor der AfD zu haben.
Studie II
Laut der neuesten „Trendstudie“ des Jugendforschers Klaus Hurrelmann im Frühjahr 2024 blicken viele Jugendliche und junge Erwachsene pessimistisch in die Zukunft. Sie sorgen sich vor dem sozialen Abstieg, vor Krieg oder aber auch davor, keine Wohnung zu finden. Erstaunlich ist das Ergebnis deshalb, weil die Job-Aussichten für den Nachwuchs in Deutschland schon lange nicht mehr so gut waren wie heute. Denn mit dem Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge sind ihre Arbeitsmarktchancen sehr gut. (nay)
Von Nina Ayerle
Das Original zu diesem Beitrag "Früher links gewählt – jetzt mal AfD" stammt von Stuttgarter Zeitung.