Trittin: „Verhandlungen fangen erst jenseits der roten Linien richtig an“
Friedrich Merz (CDU) wird Deutschlands neuer Bundeskanzler - das steht so gut wie fest. Weniger klar ist, wie schnell und worauf sich Union und SPD bei den kommenden Koalitionsverhandlungen einigen werden.
Bis zum 24. März sollen insgesamt 16 Arbeitsgruppen Vorschläge für einen entsprechenden Vertrag erarbeiten. Ganze 256 Politiker sind involviert. Der „Spiegel“ hat mit mehreren Politikern gesprochen, die selbst an Koalitionsverhandlungen beteiligt waren.
Das Ziel: Eruieren, was es braucht, damit der Austausch erfolgreich verläuft und nicht so endet wie Jamaika 2017. Das anvisierte Bündnis aus Union, FDP und Grünen war gescheitert, bevor es überhaupt begonnen hatte.
Das empfiehlt Jürgen Trittin für Koalitionsverhandlungen
Was also tun, damit es nicht so weit kommt? Der „Spiegel“ kontaktierte unter anderem den Grünen-Politiker Jürgen Trittin, der unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) Umweltminister war und dreimal Koalitionsverhandlungen für die Grünen geführt hat (1990 in Niedersachsen; 1998 und 2002 im Bund).
Trittin sagte dem Nachrichtenmagazin: „Es gibt ja die Auffassung, rote Linien seien untouchable. Nein.“ Wichtig sei vielmehr das Gesamtpaket. „Verhandlungen fangen erst jenseits der roten Linien richtig an“, so der Grüne, der sich vor mehr als einem Jahr aus dem Bundestag verabschiedet hat.
Kompromisse seien ein zentrales Element von Koalitionsverhandlungen. „Wer zwischen wichtig und unwichtig unterscheidet, kann bei unwichtigen Dingen großzügig sein“, sagte Trittin im Gespräch mit dem „Spiegel“.
Trotzdem darf laut dem Grünen nicht jede Position zur Debatte stehen. Und auch, was die Länge eines Koalitionsvertrags angeht, machte er gegenüber dem Nachrichtenmagazin klare Angaben. Zu kurz sollte die Vereinbarung in Trittins Augen nämlich nicht sein.
Hoogvliet war an Jamaika-Verhandlungen beteiligt
Er empfiehlt: „Pfade für den Aufwuchs oder Abbau von Finanzmitteln festschreiben, damit Sie nicht bei jeder neuen Verabschiedung des Haushalts elend lange kämpfen müssen.“ So spart man sich in seinen Augen später Zeit.
Mit Blick auf die Menge an Details, die ein Koalitionsvertrag enthalten sollte, erklärte Trittin: „Zynisch gesprochen: Ich lege großen Wert darauf, dass in den Ressorts, die die andere Seite verantwortet, alles detailliert geregelt ist.“ Er selbst habe gern Beinfreiheit.
Auch der Grüne Rudi Hoogvliet, Staatssekretär für Medienpolitik und Bevollmächtigter des Landes Baden-Württemberg beim Bund, sprach mit dem „Spiegel“ über möglichst gute Rahmenbedingungen bei Koalitionsverhandlungen. Hoogvliet war an den Jamaika-Sondierungen 2017 beteiligt.
Er sagte dem Nachrichtenmagazin, das Fachwissen in einem Verhandlerteam sei essentiell. Zahlen und Fakten haben ihm zufolge großes Gewicht - weil Verhandler seiner Erfahrung nach häufig nur aus Unsicherheit auf ihren Positionen beharren. „Erst wenn sie die Fakten und Zahlen genau kennen, wissen sie, welche Zugeständnisse sie ohne Schaden machen können.“
Während Verhandlungen können sich persönliche Beziehungen ergeben
Hoogvliet wies außerdem darauf hin, dass sich während der Gespräche manchmal überparteiliche, persönliche Beziehungen ergeben, die während der Zeit als Bundesregierung wertvoll sein können - vor allem in Krisensituationen.
Im „Spiegel“-Artikel kommen allerdings nicht nur Grüne zu Wort. Ein weiterer Gesprächspartner, den das Nachrichtenmagazin zum Thema „gelungene Koalitionsverhandlungen“ interviewte, ist Harald Christ. Er hatte 2021 als FDP-Schatzmeister an den Verhandlungen über die Ampel-Koalition teilgenommen.
Mit Blick auf die geopolitische Lage - also vor allem den neuen US-Präsidenten Donald Trump, der sich zunehmend von Europa abwendet - sagte Christ: „Dies sind sicherlich keine normalen Koalitionsverhandlungen, wie man sie in Friedenszeiten führt.“ Er glaubt, dass ein Koalitionsvertrag unter den aktuellen Bedingungen nur eine Art „Rahmenvertrag“ sein kann.
Außerdem ist der ehemalige FDP-Politiker, der ein Beratungsunternehmen gegründet hat, überzeugt: „Es wird wenig Spielräume geben, sich parteiideologisch zu verhaken.“ Denn dafür, so erklärt er es, herrsche gerade wenig Verständnis in der Bevölkerung.
Was wer will, zeichnet sich bereits ab
Klar ist: Die Koalitionsverhandlungen sind im Gange, bis Ostern will Merz eine Regierung gebildet haben. Einige Knackpunkte zeichnen sich bereits ab. So drängte die Union in der Vergangenheit auf eine Verschärfung der Migrations- und Asylpolitik.
Im Sondierungspapier wurde zum Beispiel verabredet, alle rechtsstaatlichen Maßnahmen ergreifen zu wollen, um die irreguläre Migration zu reduzieren. Wie genau dieses Ziel ausgestaltet werden soll, ist noch unklar. Hier könnte es zu Meinungsverschiedenheiten kommen.
Ein anderer Knackpunkt ist das Thema Bürgergeld : Die Union will es in seiner aktuellen Form streichen und die sogenannte „Neue Grundsicherung“ für Arbeitssuchende einführen. Wie hart Sanktionen für Menschen, die arbeiten könnten, aber „zumutbare Arbeit“ verweigern, ausfallen sollen, dürfte zwischen SPD und Union noch auszudiskutieren sein.
sca