Zahlen, bitte! 30-30 Winchester: Festplattenstandard vom Großrechner zum IBM-PC

>Vor 50 Jahren war die IT-Fachpresse begeistert: "Die echte Winchester ist da" jubelte die US-amerikanische Computerworld. Die deutsche Schwesterpublikation freute sich, dass nunmehr "Dateien und Betriebssysteme in der wirtschaftlichsten Form gespeichert werden" können. Gemeint ist die Festplatte IBM 3350 für die Einsteiger-Rechner vom System /370 Model 115, mit denen der Name Winchester für Festplatten zum Gattungsnamen für alle Festplatten dieser Art aufstieg. Eine Erfolgsgeschichte.

Was haben Aspen, Merlin, Iceberg, Winchester, Apollo und Midas gemeinsam? Sie sind Codenamen, die IBM in seinem kalifornischen Forschungslabor in San José bei der streng geheimen Entwicklung von Festplatten benutzte. In den 70er Jahren waren es die Datenträger, die bei IBM die größten Umsätze und Gewinne einbrachten und sich eben wie Midas als pures Gold erwiesen. Nach dem Einstieg mit der ersten Plattenstation RAMAC tüftelten die Ingenieure fortlaufend an neuen Modellen und schützten sie mit Codenamen.

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Einige von ihnen hatten mit der Technik zu tun. Merlin, das war der große Magier, der mit einem Zauber die Lese- und Schreibköpfe über den Magnetscheiben schweben ließ. Unter dem Namen IBM 3330 (PDF) entstand so ein sehr erfolgreiches System, das laut dem Konstrukteur Al Shugart zu den vier wichtigsten Entwicklungsschritten der Festplatten-Technologie zählte.

Günstige Festplattengröße via Studie ermittelt

Beim Nachfolgemodell wurde zunächst eine Marktforschungsfirma damit beauftragt, eine Studie über günstige Einsteigersysteme zu erstellen. Sie ermittelte, dass ein System mit zwei Plattenspindeln à 30 Megabyte am Markt ankommen würde. Als der damalige Entwicklungschef Ken Haughton diesen Vorschlag nach einem Jagdausflug auf seinem Schreibtisch findet und 30-30 liest, hatte er prompt den Codenamen Winchester parat, wie er sich im Gespräch über die Entwicklung von IBM 3340 und 3350 erinnerte (PDF-Datei).

Ob er dabei an die Jagdmunition .30-30 Win oder an das Winchester-Gewehr dachte, weiß man nicht. (In einem gänzlich anderen Bereich ist der mexikanische Tequila 30-30 eine Hommage an das Winchester-Gewehr von Pancho Villa).

Am Ende bot IBM im Jahre 1973 die 3340 mit anderen Größen an, einmal die Einsteigergröße mit dem Plattenmodul 3348 und 2 Spindeln zu 35 MB für 62.500 US-Dollar und eine Station mit 4 Spindeln zu 70 MB. Die erste echte gekapselte Winchester, bei der Leseköpfe und Platteneinheit nicht mehr getrennt wurden, war dann die im Jahre 1975 auf den Markt kommende IBM 3350 mit einer Kapazität von 317 MB. Alle weiteren Modelle bis hin zu den Festplatten in den PCs änderten nichts am Funktionsprinzip der Winchester-Laufwerke, wie sie bald genannt wurden.

Entmilitarisierte Namensgebung

Die Marketingabteilung von IBM bemühte sich noch, diesen Namen weg von Munition und Gewehr zu lenken, indem sie auf das Winchester Mystery House verwies, das die Erbin Sarah Winchester nach und nach in San José erbauen ließ. Ob ein Haus voller täuschender Treppen, Geheimgänge und Falltüren mit 160 Zimmern besser zum Plattenstapel für Betriebssystem und Anwendungsdateien passt, darf bezweifelt werden.

In jedem Fall war das erfolgreiche Geschäft mit Winchester-Laufwerken hochprofitabel. Wie James W. Cortada in seinem Buch "IBM: The Rise and Fall and Reinvention of a Global Icon" zeigte, erzielte IBM mit seinen Winchester-Laufwerken in den 70er Jahren bis Mitte der 80er höhere Gewinne als mit all seinen Rechner-Modellen. IBM führte darum zahlreiche Prozesse gegen Firmen wie Memorex oder Telex, die mit IBM-kompatiblen Festplatten auf den Markt drängten.

Der Begriff des Winchester-Laufwerks hielt Einzug bis in die PC-Ära, auch bei heise online. Einen guten Anteil daran hatte der Mainframe-Programmierer Peter Norton, der ab der Version 1.2 seines Programmes "Norton Unerase", das gelöschte Dateien wiederherstellen konnte, von Winchester-Disks sprach (Version 1.0 konnte nur auf Disketten entlöschen). Erst in seinem Buch "Inside the IBM PC" klärte er seine Leser auf, dass mit dem Namen Winchester die Harddisk oder eben Festplatte gemeint ist.

Übrig bleibt ein abgeleiteter Nebentreffer: —30— , auch 30-Dash genannt, war das in US-amerikanischen Zeitungsverlagen verbreitete Satzsystem Atex das Zeichen, mit dem Journalisten an einem Atex-Terminal die Eingabe eines Textes beendeten. Der Text war damit zum Setzen freigegeben, umgangssprachlich wurde er so zum Setzer geschossen.

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