Kommentar zum Lieferkettengesetz: Ausbeutung ist jetzt also doch voll okay

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Künstliche Intelligenz ist mega „In“. Sie treibt Börsenkurse und Zukunftsprognosen und alle reden gern über dieses Thema. Wer allerdings hinter die Kulissen schauen will, vor dem verschließen sich die Türen schnell. Woher Konzerne und Wissenschaft Trainingsdaten beziehen, darüber möchte niemand gern reden. Die Elektronenhirne und ihre mathematischen Modelle sind hier nämlich auf Menschen angewiesen. Menschen, die für Hungerlöhne schuften müssen. Das europäische Lieferkettengesetz war so etwas wie ein Hoffnungsschimmer für sie. Nun liegt es erst einmal auf Eis.

Ein Kommentar von Bernd Schöne

Bernd Schöne ist freier Journalist der Informationstechnik.

Generell erleben wir gerade die Umkehrung liebgewonnener Werte. Über Jahre sah die Politik im Umweltschutz, der Zollfreiheit und dem Streben nach einer humanen Weltordnung dank Compliance den Weg zu einer gerechteren und schöneren Zukunft. Der europäische Gesetzgeber fühlte sich daher für die Hilfskräfte der IT-Konzerne in Übersee und ihre Lebensumstände verantwortlich. Nun sind die Verantwortlichen angesichts einer strauchelnden Wirtschaft in sich gegangen und sind umgekehrt. Seit Trump im Weißen Haus sitzt, singen auch in Europa immer mehr Entscheider in Politik und Wirtschaft das Lied vom schlanken Staat, der möglichst keine Fragen stellt und vor allem an die eigenen Landeskinder denkt.

Das Gesetz, das plötzlich keiner mehr mag

Jüngstes Opfer ist eben das Lieferkettengesetz. Schon Olaf Scholz kündigte im Oktober 2024 an, die schon verabschiedete deutsche Variante möglichst wieder beerdigen zu wollen. Nun folgte diese Woche die EU. Laut Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird die europäische Lieferketten-Richtlinie Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) zunächst für ein Jahr verschoben und dann "entschärft".

Ob wann und wie das bestehende deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) an die kommenden EU-Regeln angepasst wird, ist nun so ungewiss wie das Schicksal des LkSG selbst. Der scheidende grüne Wirtschaftsminister wollte das Regelwerk mit der Kettensäge bearbeiten. Ganz so, als hätte seine Partei das LkSG im Bundestag nie gesehen. Die durchaus vorhandenen Härten für kleine Mittelständler hätte man dort beseitigen können. Das wurde versäumt.

Nun ist das Schicksal des Lieferkettengesetzes wohl vorgezeichnet, auch wenn noch niemand weiß, was dazu im Koalitionsvertrag der neuen Regierung stehen wird und was der Bundestag daraus macht. Auch Großunternehmen, die mit dem LkSG durchaus klargekommen wären, können wohl zunächst die Hände in den Schoß legen. Erst ab Juni 2029 sollen die überarbeiteten EU-Regeln voll greifen.

Auch in Europa hätten viele von dem Gesetz profitiert

Auf das Gesetz, das plötzlich keiner mehr mag, hatten all jene große Hoffnungen gesetzt, die wissen wollen, wer überall auf der Welt ungenannt und unbeachtet an unserem Wohlstand mitschraubt. Betroffen sind unter anderem all jene, die Tag und Nacht auf Fotos und Videos Hunde, Katzen, Omas, Lieferwagen, Swimmingpools und Gartentore identifizieren und so das Trainingsmaterial für die KIs erstellen. Logistikunternehmen, die Pakete per Drohne ausliefern wollen, möchten nicht, dass die Fracht im Wasser landet – das Fluggerät soll den Rasen identifizieren und dort landen. Das selbstfahrende Auto hingegen soll zielsicher die Einfahrt ansteuern und nicht den Vorgarten.

Ganze Rechenzentren voller Trainingsdaten haben die namenlosen Helfer für ChatGPT & Co. inzwischen abgeliefert. Als KI-Prekariat arbeiten sie ohne Gewerkschaften, Mindestlohn, Arbeitszeiten oder Krankenversicherungen. Orchestriert von Agenturen in westlichen Ländern werden die teilweise gut ausgebildeten, aber aufgrund fehlender Industrie beschäftigungslosen Klickarbeiter über das Internet angelockt. Offeriert wird Heimarbeit vor dem eigenen PC in kleinen Portionen und ohne weitere Verpflichtungen. Wer dumme Fragen stellt oder nicht spurt, bekommt nie wieder einen Auftrag. Der Brötchengeber verpflichtet seine temporären Mitarbeiter oft dazu, vor einer Webcam zu agieren. Der Auftraggeber kann so überprüfen, ob wirklich die studierte Informatikerin vor dem Bildschirm sitzt und nicht etwa ihre Tochter. Weitere Details über die Arbeitsbedingungen sind kaum bekannt.

Eine Mauer des Schweigens

Alle Nachforschungen zum Thema Klickarbeiter in der Dritten Welt und ihre börsennotierten Kunden in den Industrieländern verlaufen regelmäßig im Sande. Während KI-Konzerne Hunderte Milliarden US-Dollar investieren, labeln die Leichtlohngruppen auf den Philippinen, in Indien und Mittelamerika weiter fleißig Bilder, Texte und Videos. Die Inhalte sind teilweise gewaltverherrlichend oder sogar strafrechtlich relevanter sexueller Missbrauch. Vorsortiert ist nichts, alles muss von Menschen in Kategorien sortiert werden, damit die künstliche Intelligenz überhaupt arbeitsfähig wird. Annotieren nennt man das.

Die freien Mitarbeiter wurden weder besonders ausgebildet noch werden sie psychologisch betreut, wenn sie grauenhafte Bild- und Tondokumente vorgesetzt bekommen. Die belastende Arbeit wird schlecht entlohnt. Eine aktuelle Studie der Universität Oxford zeigt, dass Klickarbeiter im Durchschnitt nur 2,15 Dollar pro Stunde verdienen. In Ländern wie Kenia, wo viele der Klickarbeiter zu Hause sind, ist das trotzdem eine verlockende Verdienstmöglichkeit.

Die Autoren einer 2023 gesendeten Dokumentation des SWR hatten Schwierigkeiten, vor Ort überhaupt Zeugen vor die Kamera zu bekommen. Hier liegt das Problem: Das Gesetz des Schweigens verhindert jede öffentliche Diskussion, weil Zeugen lieber den Mund halten und die Verträge mit den KI-Konzernen geheim sind. Ein dunkler Fleck in der politischen und juristischen Landschaft, den sich eine offene Gesellschaft eigentlich nicht leisten kann.

Ohne Transparenz keine Sicherheit

Das Lieferkettengesetz hätte hier endlich über Landesgrenzen hinweg Klarheit schaffen können. Die anonymen Internetagenturen, die die Jobs offerieren, nutzen die Daten ja nicht selbst, sondern verkaufen sie weiter. Ob an einen oder mehrere Kunden, das bleibt ihr Geheimnis. Ebenso, ob die Daten absichtlich oder fahrlässig manipuliert wurden.

Und hier liegt die Gefahr. Falsch trainierte KI-Systeme, die heute auch Waffen steuern, sind ein potenzielles Risiko für alle. Von miserabel bezahlten und schlecht ausgebildeten Mitarbeitern ist zudem wenig Widerstand zu erwarten, wenn es um die Abwehr von Angriffen auf die Lieferketten durch Geheimdienst geht. Es geht beim Nachweis einer regelkonformen Lieferkette nicht nur um Moral, sondern auch um Sicherheit.

Irgendwann wird es hier international verbindliche Nachweise und Regeln geben müssen. Spätestens, wenn es irgendwo schmerzhaft "knallt" und fehlerhaft trainierte KI als Ursache feststeht, kommt wieder Bewegung in die Lieferkette und die Regeln, die es hoffentlich eines Tages einzuhalten gilt. Aus Sicherheitsgründen, denn Moral allein reicht nicht.

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