Missing Link: Setzt Tokyo Metro bald den europäischen Nahverkehr unter Strom?
Wenn man nach ikonischen Bildern des öffentlichen Personennahverkehrs in Tokio sucht, denkt man zuerst an diese: In der Rushhour werden Menschen auf einem U-Bahnsteig von Männern in Uniform mit weißen Handschuhen in viel zu volle Waggons gepresst, auf dass sich dann endlich die Türen schließen mögen, damit der Zug pünktlich abfahren kann. Ich gebe zu, solche Szenen selbst (leider) bislang noch nicht erlebt zu haben, sie scheinen auch nicht ganz so häufig vorzukommen, wie es westliche TV-Sender (und YouTuber) vermitteln. Doch voll sind die Linien der Tokyo Metro durchaus – auf einem Niveau, wie man es in Deutschland nur selten kennt. Man steht dann wie eine Sardine im Waggon und hält sich an einem der vielen Handläufe fest und fragt sich, was kleinere Personen tun, die weder die Haltestangen noch die kreisrunden Gummigriffe erreichen. Umfallen kann man jedenfalls nicht, dafür ist der Zug einfach zu voll. Und dennoch läuft alles zivil und vor allem pünktlich ab.
Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.
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Tokyo Metro und die Betreiberfirma dahinter, die Tokyo Metro Co., Ltd., gilt als weltweites Vorbild für einen gut funktionierenden Schnellbahnverkehr, mit dichtem Takt, sauberen Zügen und effizienten Bahnhöfen bei erstaunlich günstigen Preisen. Das Unternehmen ist eine von zwei U-Bahngesellschaften, die sich neben zahllosen anderen Schienenunternehmen wie JR East oder Tokyu einen riesigen Markt teilen, denn Tokio ist die größte Metropole des Planeten. Tokyo Metro gehörte einst nur dem Staat Japan und der Stadt, ist mittlerweile aber erfolgreich an die Börse gegangen (dazu später mehr). Konkurrent ist Toei, die zweite U-Bahngesellschaft der Stadt, die sich noch immer in Kommunalbesitz befindet. Tokyo Metro betreibt insgesamt neun Linien auf 195 km Netzlänge mit 180 Stationen, Toei Subway hat vier Linien auf 109 km Netzlänge mit 106 Stationen. Die Netzkarte der gesamten Metro ist äußerst beeindruckend.
Ausflug nach Ueno
Ich selbst hatte im Dezember die Gelegenheit, mir den Betrieb bei einem Besuch im Hauptquartier des Unternehmens im Stadtteil Ueno erklären zu lassen. Die Motivation für den Besuch war zweierlei. Erstens war Tokyo Metro erst kurz zuvor erfolgreich an die Tokioter Börse gegangen – aus europäischer Perspektive für Bahngesellschaften ein Novum in der Neuzeit. Und zweitens steht das Unternehmen kurz davor, einen Sprung nach Europa zu wagen, genauer: nach London, wo es eine der spannendsten neuen Linien der westlichen Hemisphäre (mit)managen soll – um zu beweisen, wie gut die Japaner ÖPNV können.
Die Gesellschaft sitzt in einem eher tristen, unauffälligen, brutalistisch anmutenden Klotz, dessen Lobby den Geruch der Achtzigerjahre verströmt. Für Japan ist das eigentlich kein schlechtes Zeichen, war das doch eine Zeit des Booms, in der man dachte, Nippon werde bald die Weltwirtschaft vollends übernehmen. (Es folgte eine große Krise ab den Neunzigern, von der sich Japan noch immer nicht ganz erholt hat.) Die Büros von Tokyo Metro selbst sind aber so, wie man sie in vielen japanischen Firmen kennt: Eine offene Fläche mit vielen Schreibtischen, alles etwas staubig und erstaunlich stark papierbasiert, mittendrin eine große, von Aktenschränken umstellte Besprechungsfläche, in die wir uns zurückziehen. Mein Guide hier und heute ist der PR-Manager Takuya Yashima. Diesem ist eine in Amerika aufgewachsene Kollegin beigestellt, deren Sprachkenntnisse durch einen Patch ("I speak English") neben ihrem Dienstausweis dem Umfeld kenntlich gemacht wird.
Staatlich, dann Aktiengesellschaft, dann Börse
"Wir betreiben ein U-Bahn-System mit neun Linien", spult Yashima zunächst die Fakten herunter. "Ursprünglich war es eine öffentliche Einrichtung mit dem Namen Eidan Subway, aber 2004 wurden wir in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die von der japanischen Regierung und der Verwaltung des Großraums Tokio finanziert wurde. Die nationale Regierung und die Regierung des Großraums Tokio hielten also 100 Prozent der Anteile. Im Oktober 2024 verkauften sie dann jeweils die Hälfte ihrer Anteile, um uns an die Börse zu bringen."
Das wiederum klappte erstaunlich gut. Mit einer Marktkapitalisierung von umgerechnet knapp 6,2 Milliarden Euro legte man den größten Börsengang an der Tokyo Stock Exchange seit sechs Jahren hin. Die japanische Regierung löste damit unter anderem Kredite ab, die sei seit der Erdbeben- und Tsunami-Doppelkatastrophe im Jahr 2011 mit sich herumschleppte. Börsenbeobachter nannten die U-Bahn eine "Cash-Cow mit hoher Dividende", die einen Traumstart hingelegt habe. Man stelle sich so etwas nur für die Deutsche Bahn AG vor. "Wir glauben, dass die Aktionäre uns als Infrastrukturunternehmen mit guter operativer Gewinnmarge einfach schätzen, und das ist vielleicht auch der Grund, warum wir uns auf dem Markt so gut behaupten", lobt Yashima seinen Arbeitgeber.
Auf schmaler Spur, aber nicht Schmalspur
Tokyo Metro betreibt die älteste U-Bahn Asiens, die ersten Linien gingen 1927 ans Netz. Zum Vergleich: In Berlin ging es 1902 los. Tokyo Metro hatte 2023 aufs Jahr gerechnet jeden Tag über 6,5 Millionen Fahrgäste. Was vielen Besuchern Tokios dabei nicht klar ist: Viele der wichtigsten Zuglinien der Stadt sind eigentlich Schmalspurbahnen, konkret in der sogenannten Kapspur mit 1067 mm. Nur einige Linien sowie durchgehend die Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszüge fahren auf Normalspur mit 1435 mm; es gibt zudem einzelne Eisenbahnen, die bei denen Spurweiten dazwischenliegen. Bei Tokyo Metro sind mithin nur zwei der neun Linien in Normalspur mit Stromschiene unterwegs, wie man das von deutschen U-Bahnen kennt – die Ginza- und die Marunouchi-Line, was historische Gründe hat. Alle anderen Linien laufen auf Kapspur und mit Oberleitung. In der Praxis fällt das aber vielen Fahrgästen nicht auf und hat sogar Vorteile, sagt Yashima. "Das Innere unserer neuen Wagen wurde so gestaltet, dass der Eindruck eines geräumigen Innenraums entsteht. Da U-Bahnen unter der Straße verlaufen, kann der Platz umso besser genutzt werden, je schmaler die Spurweite ist. Ich denke, Tokio ist da eine ganz besondere Umgebung. Und U-Bahnen und Eisenbahnen werden eben so gebaut, dass sie zu den Gegebenheiten des jeweiligen Ortes passen."
Die Verwendung der Kapspur hat auch noch einen weiteren Vorteil: Sogenannte Through Services – auf Deutsch würde man dazu Durchbindung sagen – mit anderen Bahngesellschaften werden möglich. Entsprechend fahren Nahverkehrszüge der unterschiedlichsten Konkurrenten in die Tokioter U-Bahn hinein und auch wieder hinaus, was interessante wie bequeme Anschlussmöglichkeiten ergibt. So kann man im Unterhaltungs- und Verwaltungsviertel Shinjuku in einem ganz normalen U-Bahnhof in einen Zug einsteigen, der nicht von Tokyo Metro gestellt wird – und kommt schließlich ohne auch nur einmal umzusteigen in der Nachbarstadt Yokohama heraus.
Ein planvoll vorgehender Staat
Die Durchbindung ist aber nichts, über das jede Eisenbahn- oder U-Bahn-Unternehmen einzeln entscheidet, betont Yashima. Es greift die gute, alte Bürokratie, die aber in diesem Fall wie am Schnürchen funktioniert. "Der öffentliche Verkehr wird bei uns als nationales Projekt konzipiert. Es ist also nicht so, dass jede Bahngesellschaft ihre eigene Linie baut und dann beschließt, verschiedene Linien miteinander zu verbinden, um Through Services zu gewährleisten. Stattdessen gibt es einen Rat für Verkehrspolitik, der ein Gremium des Ministeriums für Land, Infrastruktur, Verkehr und Tourismus darstellt, und dieser Rat untersucht und berät über grundlegende Pläne für den städtischen Verkehr und legt dann dem Minister seine Ergebnisse vor." Der städtische Verkehr wird dann auf der Grundlage dieser Ergebnisse fortentwickelt – wobei es sich faszinierenderweise aufgrund der extrem hohen Funktionalität des Systems überhaupt nicht so anfühlt, als sei hier ein Staat tätig. (Einzig störend ist höchstens, dass es in Tokio üblicherweise keine Nachtbedienung gibt, die Linien laufen zumeist zwischen 5 Uhr morgens und 0 Uhr abends.)
Auch im Hinblick auf die Fahrpreiserhebung ist das System auf Nutzerfreundlichkeit getrimmt. Zwar gibt es für Japan – außer für Touristen mit dem berühmten Japan Rail Pass – kein landesweites Gesamtticket für alle Verkehrssysteme. Doch Pay-as-you-Go-Systeme der Bauart Suica, die sich in den letzten Jahrzehnten zum universellen elektronischen Geld entwickelt haben – sowie die zunehmende Verbreitung von Tap-to-Go-Alternativen dazu – sind bequem und auch für Besucher gut zu verwenden. Beim verwendeten Tarif durfte Tokyo Metro aus westlicher Sicht unfassbare 28 Jahre lang seine Preise nicht erhöhen. Erst der Druck durch die COVID-19-Pandemie sorgte dafür, dass es im März 2023 vergleichsweise moderat nach oben ging. Nach dem Börsengang könnten nun allerdings neuerliche Erhöhungen anstehen, auch inflationsbedingt. Dennoch ist das System preiswert.
Expansion ins Ausland
Da es in Japan eine zentrale Planung der Bahnlinien gibt, kann Tokyo Metro nicht einfach entschließen, neue Linien zu bauen, ohne dass dies abgestimmt ist. Zwar wird es in den kommenden Jahren Erweiterungen bestehender Linien geben, doch parallel dazu will man seine Kompetenz erstmals auch im Ausland beweisen. Das geschah bis dato allerdings nur in Asien. "Bislang haben wir in südostasiatischen Ländern wie den Philippinen und Vietnam Hilfe etwa beim Training der Mitarbeiter und der Planung leisten können. Doch nun schauen wir auch nach Europa", sagt Yashima. "Im November haben wir einen vorläufigen Vertrag für den Betrieb der Elizabeth Line von Transport for London (TfL) erhalten. Dieser Auftrag wurde an ein Gemeinschaftsunternehmen vergeben, an dem die Sumitomo Corporation, Go-Ahead und Tokyo Metro beteiligt sind, also nicht nur wir allein." Man plane, sich in Zukunft stärker in den Betrieb und die Instandhaltung von Nahverkehrssystemen außerhalb der Heimat einzubringen. Das erinnert an ähnliche Projekte bekannter Bahngesellschaften wie der Pariser RATP – und selbst die Deutsche Bahn ist etwa über eine Tochter in Toronto aktiv.
Zwar sind andere japanische Bahnunternehmen bereits in Übersee tätig, beispielsweise liefern Zughersteller seit Jahrzehnten nach Amerika. Doch ein Vertrag über das sogenannte O&M ("Operate and Mantain") ist etwas Neues für die Japaner. Die Elizabeth Line ist in London von besonderer Bedeutung. Sie ist die modernste und bequemste Linie, die die britische Hauptstadt aktuell zu bieten hat. Auf insgesamt 117 km und mit 41 Stationen durchquert sie London und einige Außenbezirke samt Städten von Ost nach West und umgekehrt. Sie bindet sowohl den Flughafen Heathrow als auch die Innenstadt mit der City und das Bankenviertel Canary Wharf an. Die Elizabeth Line, einst als Crossrail bekannt, ist eine Mischung aus U-Bahn und Regionalzug mit modernen Stationen und hohem Takt. Sie bietet im Vergleich zur klassischen "Tube" mit ihren kleinen Stationen und hoher Lautstärke im Betrieb deutlich mehr Komfort.
Von Hongkong nach Tokio
Der bisherige Betreiber der Elizabeth Line war mit vielen Vorschusslorbeeren ausgestattet worden – die MTR Corporation aus Hongkong, die bereits viel Erfahrung im Auslandsgeschäft hat. Doch immer perfekt lief es seit dem Start im Jahr 2022 nicht, so gibt es Probleme bei der Pünktlichkeit. Hinzu kommt der politische Aspekt, die Briten wollen sich von China nicht abhängig machen. Und so entschied sich die TfL für einen neuen Betreiber, der bereits ab 2025 übernehmen soll. Zunächst für neuneinhalb Jahre läuft der Vertrag, offiziell heißt das Konsortium GTS Rail Operations. Es verbindet Tokyo Metro mit dem japanischen Mischkonzern Sumitomo und dem britischen Verkehrsunternehmen Go-Ahead, das australische und spanische Besitzer hat.
Den Londonern wurde der Deal auch damit schmackhaft gemacht, wie gut der ÖPNV in Tokio läuft. "Das Konsortium wird die besten Teile Tokios und Londons zur Elizabeth Line bringen", betont man bei der TfL. So soll etwa das Angebot weiter ausgebaut werden, wenn in 2030 die neue Riesenstation Old Oak Common ans Netz geht. Einen besseren Start für die Auslandsexpansion hätte sich Tokyo Metro eigentlich nicht aussuchen können, zumal das Londoner Bahnsystem in seiner Komplexität dem von Tokio gleicht. Nun muss die Übernahme von der MTR Corporation nur noch reibungslos klappen. In Deutschland sucht man übrigens auch nach neuen Betreibern für komplexe S- und U-Bahn-Systeme. In Berlin steht die Ausschreibung für die Stadtbahn und das Teilnetz Nord/Süd an.