Er wird es nie zugeben, aber die AfD wird bei Merz über dem Kabinettstisch schweben
Montag
Kompliment an die vier Sondierer: Sie waren schnell, wie erhofft. Die dramatischen Ereignisse in den USA und der Wunsch der Wähler nach einer raschen Wende haben sie offenbar beflügelt. Jetzt geht es darum, aus den elf Seiten Sondierungsergebnis einen Koalitionsvertrag zu entwickeln.
Die ehemalige GroKo, die nur noch eine KleinKo ist, darf die Gewichte nicht verschieben. Merz und Söder müssen darauf achten, dass die Wahlverlierer von der SPD nicht stärker abschneiden als die Gewinner von CDU und CSU. Trotz ihres Erpressungspotenzials müssen die Sozialdemokraten respektieren, dass sie das Spiel mit 16:28 verloren haben.
Die heimliche Rolle der AfD
Wenn die beiden Parteien über das Schicksal Deutschlands entscheiden, sitzt eine dritte Partei unsichtbar mit am Tisch. Die KleinKo-Partner werden es nie zugeben, aber sie müssen in ihren Hinterköpfen auch an die AfD denken.
Nicht gerade an Alice Weidel, aber an deren Wähler. Die sind in Millionenstärke von der Union und der SPD zur AfD übergelaufen und haben sie zur zweitstärksten Fraktion im Bundestag gemacht. Wenn Merz und Klingbeil viele von ihnen zurückholen wollen, müssen sie genau analysieren, wegen welcher ungelösten Probleme sie die Seite gewechselt haben.
Dienstag
Der alte Bundestag soll noch einmal zusammentreten, um der neuen Regierung einen Gefallen zu tun. Mehr als 140 Abgeordnete, die nicht mehr ins Parlament gewählt worden sind, haben schon ihre Büros geräumt oder sind gar in Urlaub gefahren. Sie sind Politiker von gestern und sollen im Nachsitzen eine Verfassungsänderung ermöglichen, die ein paar Tage später im frischen Bundestag nicht durchgehen würde.
Mehr aus dem Bereich Meinung
Meistgelesene Artikel der Woche
Ein verzerrter Wählerwille
Rechtsgelehrte streiten, ob das Manöver den Gesetzen entspricht. Da kann ich nicht kompetent mitreden. Aber ich kann sagen, dass es mein Gefühl für Demokratie stört. Dass ein ausgemustertes Parlament, das sich bald auflöst, dem nächsten frisch gewählten Parlament bindende Gesetze vorschreiben darf, kann nicht dem Wählerwillen entsprechen.
Zusätzlich wird er durch einen weiteren Effekt verzerrt. Weil die Grünen für die Mehrheit gebraucht werden, können sie die Koalitionsentscheidungen nachträglich beeinflussen, obwohl sie nicht zur Regierung gehören.
Donnerstag
Ich muss an Friedrich Hölderlin denken, an seine Zeilen: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Mitten hinein in die brutalen Operationen Trumps gegen das ukrainische Volk profiliert sich ein Politiker als Gegenpol und Beschützer Selenskyjs, den nur wenige auf der Rechnung hatten.
Der britische Premier Keir Starmer, dessen Land die Europäische Union verlassen hat, erweist sich als standhafter Europäer. Tapfer vertrat er seine Position im Weißen Haus und demonstrativ herzlich umarmte er den vor aller Welt gedemütigten ukrainischen Regierungschef.
Trump profitiert von Uneinigkeit
Donald Trump, dessen Dealerei im Amt die Welt durchwirbelt, wird nur auf selbstbewusste Gegenspieler reagieren. Noch treten die europäischen Länder mit Einzelfiguren bei ihm an.
Neben dem Briten Starmer spielt der Franzose Macron eine Gastrolle, demnächst wahrscheinlich auch der Deutsche Merz, der Pole Tusk und vielleicht auch die Italienerin Meloni. Kallas, die Außenbeauftragte der EU, bekam keinen Termin.
Auf die Dauer müssen sich die europäischen Staatschefs verabreden, wer Europa vertritt. Das Wettreisen von mehr als zwanzig Ländern nützt Trump, der kein geschlossenes Europa mag.
FOCUS-Gründungschefredakteur Helmut Markwort war von 2018 bis 2023 FDP-Abgeordneter im Bayerischen Landtag.