Plötzlich erhält Thomas Müllers Bayern-Abschied eine letzte ironische Pointe
Eigentlich frech, wie das im Leistungssport läuft. In jeder anderen Branche sind 35-Jährige kaum einmal Junior-Chefs, eher rührend juvenile Nachwuchskräfte, die noch sehr viel zu lernen haben auf ihrem Weg an die Unternehmensspitze.
35-jährige Fußballer hingegen gelten als Abgesandte der Spezies Altstar, deren Muskeln und Sehnen bereits bemitleidenswert erschlafft sind. Für einen Fußballer, sowieso beim zum Erfolg verpflichteten FC Bayern, der mindestens jedes Spiel zu gewinnen hat, ist 35 heutzutage eine sehr hohe Zahl.
Insofern konnte die Kernbotschaft, die der 35-jährige Thomas Müller am Samstag auf Social Media platzierte, niemanden verblüffen: „Der Verein hat sich bewusst dafür entschieden, mit mir keinen neuen Vertrag für die nächste Saison zu verhandeln.“ Was durchaus erstaunte, war die unverblümte Art, mit der Müller proklamierte, dass er trotz seines biblischen Alters gerne weitergemacht hätte. Bayerns Beschluss, schrieb er, entspräche „nicht meinen persönlichen Wünschen“.
So oder so: Der Sommer 2025 beschließt Müllers Monumental-München-Ära nach exakt 25 Jahren, davon 17 als Profi.
Bei Thomas Müller war die Sache klar – bis zur 52. Minute in Augsburg
Natürlich ist der 35-jährige Müller ein anderer Fußballer als der 27-jährige Müller – und auch ein anderer als der Müller mit 31 oder 33. Es war nicht zu verbergen, wie er als Mittdreißiger körperlich abbaute; wie er, der ewige Zwischen-den-Linien-Wandler, immer noch zwischen den Linien wandelte, aber immer seltener den Saft in den Beinen hatte, um seine Gedanken in schlaue Aktionen zu überführen. Biologie ist gnadenlos.
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Was beim FC Bayern unter Ex-Trainer Thomas Tuchel und im Prinzip schon unter Ex-Ex-Trainer Julian Nagelsmann begonnen hatte, setzte sich beim aktuellen Coach Vincent Kompany in verschärfter Form fort. Müllers letzte Einsatzminuten lauten 3, 0, 62, 6, 0, 5. So etwas kann einem, der weit über 700 Pflichtspiele für seinen Herzensverein bestritten hat, doch nicht genügen. Meint man.
Müller aber schrieb, dass er sich diese Rolle „auch im nächsten Jahr gut vorstellen“ hätte können. Nur sah der FC Bayern ein Missverhältnis zwischen sportlichem Ertrag und wirtschaftlichem Aufwand, Müller soll rund 17 Millionen Euro verdienen, nach wie vor. Also: Ende Legende.
Die Sache war klar. Bis zur 52. Minute bei Bayerns Auswärtsspiel in Augsburg (3:1) am Freitagabend.
Musiala-Verletzung verleiht Müller-Abschied eine ironische Pointe
Da verletzte sich Jamal Musiala derart folgenschwer, dass die Müller-Nummer plötzlich eine ironische Pointe erhält, eine launische, fast zynische Zote des Schicksals. Musiala wird mit Muskelbündelriss im Oberschenkel lange fehlen, schlimmstenfalls droht das Saison-Aus. Und so veränderte Müllers Einwechslung in Augsburg die Wucht, Wirkung und Vehemenz seiner Abschiedstournee, die zu diesem Zeitpunkt offiziell noch gar keine Abschiedstournee war.
Plötzlich kommt dem 2014er Weltmeister just in der wichtigsten Saisonphase eine gewichtige Rolle zu. Durch Musialas Pech ist Müller schlagartig zwei bis sieben Stufen näher an die Stammelf gerückt, und im Februar, beim 4:0 gegen Frankfurt, hatte er bewiesen, punktuell ein Spielentscheider geblieben zu sein. Zumindest ein Spielbeeinflusser.
Zwei Fragen stellen sich: Wie sehr vermag Müller die Bayern-Offensive mit seinem Stil zu lenken? Und vor allem: wie regelmäßig und in welcher Intensität?
Thomas Müller und die Parallelen zu den Jahren 2012 und 2013
Das Champions-League-Viertelfinale gegen Inter Mailand bildet die unerwartete Ouvertüre, die Müller einen Abgang als elementares Ensemble-Mitglied ermöglicht. Und natürlich müssen die Parallelen strapaziert werden, es ist ja zwecklos.
„Es wäre ein Traum für mich, die Meisterschale wieder nach Hause zu holen und das ersehnte Finale dahoam zu erreichen“, schrieb Müller. Nicht nur, dass das Champions-League-Finale wie 2012, beim vermaledeiten Drama gegen Chelsea, als Müller traf und verlor, in der Allianz Arena stattfindet. Musialas Verletzung spannt auch ein Band ins Münchner Erfolgsjahr 2013. Damals zog sich Toni Kroos ebenfalls Anfang April einen – ja, richtig – Muskelbündelriss zu, was den späteren Triple-Helden Arjen Robben erst in die Mannschaft brachte…
Die Vergangenheit lässt sich nicht beliebig reproduzieren. Aber es würde zum Schaffen des Thomas Müller passen, wenn er noch etwas im Repertoire hat. Irgendwas. Vielleicht, wenn’s sein muss, die ganz große, viel zu kitschige Geschichte.