Champions League: Niemand glaubt an das BVB-Wunder – doch mit dem Anpfiff passiert etwas im Stadion
An ein Wunder glaubt in Dortmund niemand. 0:4 ging die Borussia vor rund einer Woche im Estadi Olímpic auf dem Montjuïc von Barcelona unter. Ein Weiterkommen in der Champions League ist aussichtlos, das war’s.
Dabei war die Vorfreude auf dieses tolle Duell im Viertelfinale der Königsklasse riesig. Der große FC Barcelona wartete! Selten war der Andrang auf Tickets so gigantisch.
Für die Glücklichen, die Karten ergatterten, sank die Vorfreude nach dem Hinspiel entsprechend. Es geht sechs Tage später nicht mehr um einen möglichen Halbfinal-Einzug. Man wolle sich nun anständig und würdevoll aus der Champions League verabschieden, so der Tenor.
BVB und der Abschied von der Champions League
Wehmut statt Hoffnung. Wer weiß, wann sie hier in Dortmund wieder die legendäre Hymne in Flutlicht-Atmosphäre zu hören bekommen. Angesichts der sechs Punkte Rückstand auf einen entsprechenden Platz in der Bundesliga benötigt der BVB auch hier ein kleines Wunder.
Wunder, Wunder, Wunder, die schwarz-gelben Anhänger können es vor dem Spiel schon nicht mehr hören. Jeder BVB-Verantwortliche versuchte etwas heraufzubeschwören, was mit gesundem Menschenverstand und Blick auf die sportliche Dominanz der Katalanen für Unmöglich gehalten wird.
Aber auch Stadionsprecher Nobert Dickel probiert es. „Es ist mal wieder Zeit, ein Wunder in diesem Stadion zu erleben. Warum denn nicht?“, fragt Dickel über die Lautsprecher herausfordernd, und so naiv.
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Mit Anpfiff gegen Barca sind die Zweifel weg
Anpfiff. Sobald der Ball auf dem nassen Grün im Signal-Iduna-Park zirkuliert, passiert etwas auf den Rängen. Die Masse pusht, befeuert die Spieler leidenschaftlich. Die Spieler pressen, überrumpeln die Star-Truppe von Ex-Bundestrainer Hansi Flick.
Es beginnen berauschende Momente in Dortmund. Das Spiel ist keine fünf Minuten alt, da hält es auf der Haupttribüne niemanden mehr auf seinen Sitzen.
Guirassy trifft zur frühen Führung
Maximilian Beier hat die erste Chance, ein Raunen. Konter über Karim Adeyemi, Adrenalin fließt über die Tribünen. Zehn Minuten Powerplay, dann ein elektrisierender Jubel: Elfmeter! Serhou Guirassy verwandelt zum frühen 1:0. Moment mal, ist hier tatsächlich etwas drin? Fans liegen sich ungläubig in den Armen, blicken in andere fragende Augen.
Jeder gewonnene Zweikampf wird gefeiert, jede gelungene Aktion bekommt einen Szenenapplaus. Das Stadion pusht.
Und die Spieler antworten. Pascal Groß, Beier, Adeyemi, Guirassy verpassen vorne das zweite Tor. Hinten verteidigen die Borussen leidenschaftlich, allen voran der starke Niklas Süle.
Der schwärmt später: "Ich habe noch nicht so viele Spiele für Borussia Dortmund gemacht, wo wir so füreinander eingestanden sind. Wo wir so gekämpft haben. Ab der ersten Minute hat jeder im Stadion gemerkt, dass wir dran glauben. Alle elf, die auf dem Platz stehen, alle auf der Bank."
Dortmund überrennt Barca
Halbzeit. So fesselnd das Spiel bisher auch ist, an das W-Wort traut sich noch niemand zu denken. Es steht nur 1:0, Barca heißt der Gegner. Es braucht viel Fantasie.
Dann rollt der Ball wieder und die Zuschauer sehen dasselbe Spiel: der BVB überrennt die Spanier. Adeyemi, Groß, Groß! Drei Chancen innerhalb von drei Minuten. Viele Fans sind noch gar nicht wieder auf ihren Plätzen, da kocht die Arena bereits.
Die folgende Ecke landet am zweiten Pfosten bei Ramy Bensebaini, dann köpft Guirassy ein. Grenzloser Jubel, die Menschen liegen sich wieder ungläubig in den Armen. Ja darf man sich nun trauen??? Darf man denn schon glauben?
Ein Eigentor schockt Dortmund
3187 Sekunden baut sich so etwas wie Hoffnung auf, da bugsiert Bensebaini eine Flanke von Fermin Lopez ins eigene Tor. Nur noch 2:1. Totenstille, nun sind erstmals die mitgereisten Barca-Fans oben unterm Dach im Oberrang zu hören.
Das Stadion schüttelt sich. Nun war’s das endgültig, die Borussia benötigt wieder drei Tore. Unmöglich. Die Süd singt zwar weiter, sie hüpft weiter, so wie sie es immer tut. Auf der Geraden aber erfüllen die Sitzschalen nun endlich ihren Zweck. Barca hat den Stecker gezogen.
Dann Guirassy zum dritten. Der Jubel ist nun anders, weniger euphorisch, weniger glaubend. Doch wieder passiert etwas im Stadion. Von Sekunde zu Sekunde werden die Fans mehr angefixt. Die Süd peitscht, die Spieler kämpfen, die Ränge bauen sich wieder auf. Jede Aktion bekommt ihren Applaus, ihre Pfiffe, ihre Antwort.
Als Brandt zum Vierten einschiebt, brechen alle Dämme...
Drei Minuten nach Guirassys Mutmacher bringt der eingewechselte Julian Brandt das Stadion endgültig zum Beben. 4:1! Ein Familienvater reißt wild tobend die Arme nach oben, dreht sich völlig überwältigt von Emotionen um und springt den wildfremden Menschen hinter sich in die Arme.
Es dauert ein paar Augenblicke bis er realisiert, dass die zwei überraschten Frauen blau-rote Trikots tragen. Entschuldigend dreht er sich von den beiden Barca-Fans wieder zu seinen Kindern und verliert nun noch mehr Farbe aus seinem Gesicht: Das Tor zählt nicht...
Die 12 magischen Sekunden von Dortmund
Doch diese elf, zwölf Sekunden, die es braucht, bis das Stadion erkennt und versteht, diese Sekunden sind magisch. Ausnahmezustand pur, Glaube und Hoffnung, ja sie sind da. Heute ist Zeit für ein Wunder! Es bleibt ein kurzer Augenblick.
Die Hoffnung bleibt trotz Abseitsentscheidung. Serotonin, Dopamin, Endorphin, Adrenalin, was auch immer noch an Glückshormonen durch die Venen der schwarz-gelben Anhänger schießt, es trägt die Arena und die Mannschaft in den Schlussminuten.
Aus Hoffnung wird dann Stolz. Der BVB gewinnt, scheidet aber aus. Als der Schiedsrichter abpfeift, gibt es keine Pfiffe als Zeichen der Enttäuschung über das Aus. Das Stadion applaudiert. Auf der Süd halten die Fans ihre Schals in die Höhe und formen an diesem Abend ein letztes Mal die Gelbe Wand.
Sie zeigen der Champions League, was sie in Zukunft vermissen wird. Ein Wunder bleibt aus, doch das war ein königlicher Abschied aus der Königsklasse.