Kretschmann kritisiert „offene Flanke“ der Grünen, gibt Tipps für Merz
„Aus meiner Sicht ist der Hauptgrund, warum wir gescheitert sind, unsere Unklarheit in der Migrationspolitik“, sagte der Grünen-Politiker dem „Stern“: „Die Flüchtlingspolitik ist einer der Trigger aller rechtsradikalen und rechtspopulistischen Bewegungen. Diese Flanke konnten wir nicht schließen. Auch dann nicht, als das Thema anfing, die Debatte zu dominieren.“
Kretschmann empfiehlt seiner Partei, „Klarheit“ zu schaffen und für „eine Begrenzung der irregulären Migration und zugleich eine Verflüssigung der regulären Migration“ einzutreten. Mit einem solchen Ansatz hätten die Grünen nach Ansicht von Kretschmann einen strategischen Vorteil: „Die Union redet immer nur über die Begrenzung. Wir reden auch über die Verbesserung der legalen Migration. Da haben wir die Wirtschaft auf unserer Seite, weil wir Arbeitskräfte brauchen.“
Eine Abschaffung des Individualrechts auf Asyl, wie es der Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gefordert hatte, lehnt Kretschmann ab. „Dafür gibt es auch absehbar überhaupt keine Mehrheiten. Aber ich sage immer: Klar in den Zielen, offen in den Wegen.“ Deutschland müsse Verfolgten weiterhin Schutz gewähren. „Was nicht geht: Dass jemand nur ‚Asyl‘ sagen muss und dann einfach nach Deutschland reinkommt und wir ihn jahrelang, auch bei schweren Straftaten nicht loswerden, auch wenn er gar keinen Anspruch darauf hat“, sagte Kretschmann. „Jeder vernünftige Mensch muss einsehen, dass das auf Dauer nicht funktioniert.“ Grundsätzlich müsse man „Humanität und Ordnung zusammendenken“, so der Grünen-Politiker.
Tipp aus der Verkehrserziehung
Kretschmann empfiehlt Friedrich Merz fürs künftige Regieren eine Regel aus der Verkehrserziehung. „Erst links, dann rechts, dann geradeaus – dann kommst du sicher gut nach Hause. Das habe ich als Kind im Straßenverkehr gelernt. Das gilt auch in der Politik“, sagte der seit 2011 regierende Grünen-Politiker dem stern. „Merz hat es umgekehrt gemacht. Nicht links, nicht rechts, nur geradeaus geschaut. Das ist in die Hose gegangen. Und ich meine nicht nur die Abstimmung mit der AfD.“
Er habe aber die Hoffnung, „dass Merz daraus gelernt hat“, sagte Kretschmann. „Denn ob es uns passt oder nicht: Diese neue Regierung darf nicht scheitern. Nicht in dieser Weltlage. Trump betrachtet uns als Gegner, von Putin ganz zu schweigen. Demokraten müssen jetzt zusammenhalten.“ Den Grünen empfahl er, als Opposition „konstruktiv“ zu sein. Und noch einen Rat hat Kretschmann für den CDU-Chef: „Merz kann eine lateinische Weisheit von mir lernen: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem. Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende.“
Kretschmann ist der zweitdienstälteste Ministerpräsident Deutschlands, nach dem CDU-Politiker Reiner Haseloff in Sachsen-Anhalt. Er wurde zweimal wiedergewählt, tritt aber bei der Landtagswahl im Frühjahr 2026 nicht erneut an. Über seinen Ruhestand macht sich Kretschmann derzeit noch keine Gedanken: „Weil ich mir das verbiete. Wenn ich mir jetzt überlege, was ich dann mache, zieht das sofort mentale Kraft ab. Ich stehe, nach Corona, vor dem wahrscheinlich härtesten Jahr meiner Amtszeit. Das erfordert meine volle Kraft bis zum Schluss.“
Die Deutschen müssen mehr arbeiten
Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage in Deutschland fordert Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine Ausdehnung der Arbeitszeit. „Dass wir ausgerechnet in einer Krise, weniger arbeiten wollen, ist völlig aus der Zeit gefallen“, sagte der Grünen-Politiker dem „Stern“: „Die Jahresarbeitszeit aller Industrienationen ist in Deutschland am geringsten. Wir müssen mehr arbeiten.“ Kretschmann verwies dabei auf sein eigenes Beispiel: „Ich bin 76 und haben Zwölf-Stunden-Tage. Solange wir gesund sind, keine Kinder erziehen oder Angehörige pflegen, müssen wir mehr arbeiten. Es wird anders gar nicht gehen.“
Vom Vorschlag aus der Wirtschaft, einen Feiertag zu streichen, hält Kretschmann hingegen nichts. „Ich wüsste nicht, warum ich als Christ auf die Feiertage losgehen sollte. Die sind grundgesetzlich geschützt“, sagte er. Kretschmann, der seit 2011 Baden-Württemberg regiert, ist Katholik.